#38

„Oh hallo, ich habe dich gar nicht gesehen. Magst du nicht in die Sonne sitzen?“

Ich schüttle den Kopf.

„Okay J ich lege mich da drüben auf die Bank. Ist das in Ordnung für dich?“

Ich nicke und lächle.

„Wie heißt du denn nochmal?“

Ich lege meinen Kopf schief und ziehe die Augenbrauen nach oben. Sie weiß, dass ich nicht spreche, aber meinen Name kann ich ihr trotzdem sagen.

Sie setzt sich ein Stück von mir entfernt auf die Bank und schaut mich eine Weile an. „Ich hab gehört, dir geht es nicht so gut…“

Ich ziehe nochmal meine Augenbrauen nach oben, ziehe die Schultern nach oben und blicke zur Seite. Dann entscheide ich mich aber doch noch zu nicken.

„Kann ich verstehen. Das ist sicher auch nicht so einfach….“

Ich lächle zurück. Ich mag sie sofort, auch wenn ich bisher nichts mit ihr zu tun hatte und sie bis jetzt nicht mehr als drei Sätze zu mir gesagt hat. Aber sie ignoriert mich nicht und sie ist die Einzige, die sich getraut hat mich anzusprechen. Und zwar ohne schon im Vorhinein damit zu rechnen, sowieso keine Antwort zu bekommen. Sie legt sich auf die Bank und sagt eine Weile nichts. Ein paar Minuten später richtet sie sich wieder auf und schaut mich an: „Hast du Lust ein bisschen mit mir spazieren zu gehen?“

Ich lege den Kopf schief und lächle.

„Aha du triffst wohl nicht so gerne Entscheidungen“, sagt sie und grinst mich frech an. Ich grinse zurück und nicke. „Tja, ich auch nicht, deshalb überlass ich die Entscheidung mal dir!“

Ich will gerne mit ihr spazieren gehen, weil ich ihre Anwesenheit mag und weil ich mich alleine fühle. Und weil ich weiß, dass sie mich fragen wird und ich mich so sehr danach sehne mit jemandem zu reden. Und sie ganz offensichtlich mit mir sprechen möchte. Oder mir die Gelegenheit geben möchte, mit ihr zu sprechen.

Also schaue ich sie weiterhin an und hoffe, dass sie mich nochmal fragen wird. Wenig später tut sie das dann auch und wir suchen uns einen Weg durch den Wald…

#37

Ich sitze wie auf Kohlen seit ich aus dem Seminar zurück bin. Meine Eltern sind gerade dabei ihre restlichen Sachen zusammenzupacken bevor sie in den Urlaub fahren. Ich möchte unbedingt den Briefumschlag öffnen, den mir die Seminarleiterin auf der Heimreise gegeben hat. Ich habe aber Angst, dass ich mich nicht beherrschen kann, wenn ich ihn öffne und ich wieder in Tränen ausbrechen werde, so wie etwa alle zwei Stunden in der vergangenen Woche. Nur hier zu Hause muss ich mich zusammenreißen solange meine Eltern da sind. Im Seminar war es völlig egal. Die Stumme, die die ganze Zeit nur auf den Boden starrt, war ich sowieso schon und spätestens seitdem  ich am Dienstagnachmittag tränenüberströmt ankam und den restlichen Tag heulend im Bett verbracht habe, wusste jeder, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie haben mir einen Brief geschrieben und gefragt, ob sie mir irgendwie helfen können und ich habe geantwortet, dass ich gerade ziemlich überfordert bin. Und ab dem Moment war es völlig in Ordnung, dass ich einfach nur dabei saß oder auf meinem  Zimmer war oder draußen saß. Und es war auch in Ordnung wenn ich geweint habe und es alle sehen konnten. Es war für mich in Ordnung und es war für sie in Ordnung. Und ich habe das sehr genossen, dass ich mich nicht die ganze Zeit beherrschen musste. Und ich bin froh, wenn meine Eltern weg sind, dann muss ich auch hier keinem mehr etwas vorspielen.

Wenig später öffne ich den Briefumschlag und es fallen mehrere kleine Zettelchen heraus, auf die etwas geschrieben steht:

„aH Hallo Jonna, auch wenn wir nicht viel mit dir zu tun hatten, fanden wir es trotzdem immer schön, dass du dabei warst! Bist echt ne süße Maus J Machs gut und alles Gute für die Zukunft. Liebe Grüße N., F. und H.“

„Liebe Jonna, ich fand es unglaublich schön, dich näher kennengelernt zu haben und wünsche dir viel Spaß und Glück bei was auch immer du dir für die Zukunft vornimmst. Deine P.“

„Liebe Jonna, ich finde es sehr mutig und bewundernswert, dass du dich noch auf dieses Seminar eingelassen hast. Auch wenn der Start hier schwer war, finde ich du bist diese Woche viel mehr in der Gruppe gewesen, wahrgenommen und auch integriert worden. Das finde ich sehr schön! Ich hoffe du kannst an viele positive Erfahrungen aus deinem FSJ zurückdenken. Ich wünsche dir auf deinem weiteren Weg von Herzen alles Gute! Falls du noch irgendetwas brauchst, darfst du dich gerne jederzeit melden. Viele Grüße A.“

„Liebe Jonna, ich finde es schön, dass du hier dabei warst obwohl es nicht einfach für dich war. Glaube bitte weiterhin an dich, du bist supersympathisch.“  (ich weiß ohne Namen, dass der Zettel von H. kommt <3)

„Liebe Jonna, ich finde es toll, dass du an den Seminaren dabei warst und immer total interessiert warst. Ich glaube eine große Stärke von dir ist es, Dinge zu sehen und vor allem wahrzunehmen und dabei zu reflektieren. Vielen fällt das schwer, aber dafür leichter zu reden oder vor einer Menge zu stehen. Doch was bringt es ihnen, wenn sie das Wesentliche nicht sehen oder verstehen? Ich wünsche dir für deine Zukunft alles alles Liebe und Gute. Viel Kraft und Vertrauen in dich selbst. Ich glaube fest daran, dass du deinen Weg gehen wirst, auch wenn du jetzt den Blick in die Zukunft noch nicht so klar vor Augen hast. Alles Gute und liebe Grüße D.“

Ich lasse den letzten Zettel sinken und das alles auf mich wirken. Schon seit den ersten Worten sitze ich tränenüberströmt in meinem Bett und bin berührt von den ganzen lieben Worten, die sie mir mit auf den Weg gegeben haben. Gleichzeitig macht sich die riesengroße Verzweiflung in mir breit, die mich schon seit Dienstag immer wieder heimsucht. Ich habe jegliche Perspektive verloren. Ich habe einfach keine Ahnung mehr wie es weitergehen soll. Und ich habe Panik. So sitze ich noch zwei Stunden später, mal mit einem Kissen gegen mich gedrückt, mal liege ich im Bad auf dem Boden oder sitze neben der Toilette, weil ich das Gefühl habe mich vor lauter Heulen gleich übergeben zu müssen. Und ich bekomme immer mehr Panik. Mir wird bewusst, dass ich die Kontrolle über das alles hier schon längst verloren habe. Dass ich ganz alleine bin und das die ganze nächste Woche. Ich bin kurz davor meiner Tante zu schreiben, weil sie die Einzige ist, der ich es zumuten würde, mich so zu sehen. Auch wenn sie von dem ganzen hier nichts weiß.

Aber dann ist es plötzlich vorbei und alles normalisiert sich ein bisschen…

#35

„Cada uno de vosotros me dice ahora su nombre y una frase más sobre sí mismo.”

Na super, jeder von uns sagt dieser Spanisch- Austauschlehrerin, die beschlossen hat heute gemeinsam mit unserer Spanisch- Lehrerin Unterricht zu machen, jetzt seinen Namen und einen Satz über sich selbst.

„Muy bien. Ahora tú?….“
„Nächster?“

„Ach so, sie heißt Jonna. Aber die spricht nicht.
Macht der nächste weiter?“

#32

Quand j’étais petit, ma mère m’a dit que le bonheur était la clé de la vie. A l’école, quand on m’a demandé d’écrire ce que je voulais être plus tard, j’ai répondu „heureux“. Ils m’ont dit que je n’avais pas compris la question, je leur ai répondu qu’ils n’avaient pas compris la vie

– John Lennon

#31

Seminar Rückblick

Es klopft an unsere Zimmertür und ich warte darauf, dass irgendeine meiner Zimmermitbewohnerinnen so etwas wie „Herein…“ oder „Ja…“ ruft (nicht zu reden ist schon kompliziert…).
Eine der Betreuerinnen steckt ihren Kopf durch die halb geöffnete Tür: „Jonna, können wir kurz mit dir sprechen? Oder mit euch sprechen?“. Ich gehe stillschweigend davon aus, dass mit „euch“ eine meiner beiden Zimmerkolleginnen gemeint ist und deshalb klettere ich so schnell wie möglich vom Stockbett hinunter, um zu vermeiden, dass sie tatsächlich mit „uns“ spricht.
Als ich die Zimmertür hinter mir schließe, schaue ich mich erst einmal erstaunt um und frage mich, wer dieser „wir“ ist, der mit mir sprechen möchte, denn außer ihr und mir sehe ich weit und breit niemanden.
„Jonna, hast du schon etwas gegessen seit wir hier sind?“ Ich schaue weiterhin durch sie hindurch. Die Frage kann ich nicht beantworten, auch wenn die Antwort klar und deutlich „Nein“ lauten sollte. „Jonna, der zweite Tag ist schon zu Ende und ich habe dich noch kein einziges Mal etwas essen sehen. Hast du Hunger?“
Noch so eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Eindeutig zu persönlich.
„Sollen wir in die Küche gehen, wenn niemand mehr da ist und dir etwas zu essen suchen?“
Jaaaa ruft irgendetwas in mir drin, während ich mich (vielleicht mal abgesehen von meiner Mimik) äußerlich keinen Millimeter bewege, weil ich einerseits (natürlich) Hunger habe (schließlich hab ich seit 1,5 Tagen nichts Anderes als zwei Äpfel gegessen), andererseits weiß ich genau, dass ich mir auch mit ihr allein in der Küche nichts zu essen holen könnte.
Weil von mir eindeutig keine Antwort zu erwarten zu sein scheint, trifft die Betreuerin schließlich die Entscheidung selbst und holt mich eine halbe Stunde später im Zimmer ab, von wo aus wir gemeinsam in die Küche laufen, wo das sprachlose Debakel weitergeht. Dieses Mal bin ich allerdings gewappnet und gebe ihr schließlich meinen vorbereiteten Zettel, der die ganze Sache eindeutig erleichtert und dazu führt, dass wir (nein, das ist lächerlich, nicht WIR sondern SIE) tatsächlich eine Lösung für mein Essensproblem findet, sodass ich letztendlich wirklich fast zu jeder Mahlzeit etwas essen kann!

#30

Ich würde so gerne mal von außen auf mich schauen und mich beobachten können. In so krassen mutistischen Situationen, wie sie hier im Seminar praktisch ständig passieren. Eigentlich durchgehend. Ich habe seit Montag sozusagen einen „Dauer-Mutismus-Zustand“. Sprechen tue ich eigentlich nur mit mir selbst, wenn niemand dabei ist. Um auszuprobieren, ob meine Stimme überhaupt noch funktioniert.

Wenn ich hier durchs Haus laufe, dann schleiche ich eigentlich nur, ausdruckslos, und starre den Boden an. Wenn ich durch eine Tür laufe, dann muss ich mich aufs Neue überwinden. Wenn ich durch einen Raum laufe, dann drücke ich mich an der Wand entlang und versuche den Blicken der Anderen auszuweichen.

Und das alles würde ich gerne mal aus einer anderen Perspektive sehen. Und vor allem natürlich auch die Reaktion (oder eher Nicht- Reaktion), wenn mich jemand anspricht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie ich auf andere wirke.

#29

Seminar

Meine größte Herausforderung  beim Essen ist es hier, das Wasserglas zu leeren, das mir meine Zimmermitbewohnerin jedes Mal am Anfang füllt. Ein kleines lächerliches Wasserglas und sonst nichts. Und trotzdem starre ich eine halbe Stunde lang dieses Glas an und frage mich, wie ich dessen Inhalt in meinen Mund befördern soll. Es funktioniert nichts automatisch, ich muss meinen Händen alles konkret anweisen. Ein Wasserglas zu leeren klingt eigentlich ganz einfach. Vielleicht ist es das auch und ich mache es deshalb so kompliziert. Auf der einen Seite will ich das Glas so schnell wie möglich leer bekommen und es hinter mich bringen. Je öfter ich das Glas in die Hand nehmen muss, desto öfter muss ich mich jedes Mal aufs Neue überwinden. Spricht also dafür, so viel wie möglich auf einmal zu trinken. Aber das wiederum fällt auch auf… Und außerdem könnte es mir passieren, dass das Glas zu früh leer ist und mir jemand nochmal etwas einschenkt. Theoretisch könnte ich einfach „Nein, danke“ sagen. Praktisch funktioniert das leider nicht, weil ich erstens nicht spreche und zweitens mich deshalb sowieso erst gar nicht jemand fragt.

Und währenddessen essen die anderen im Raum gemütlich ihr 3- Gänge Menü.

Ich bin bekloppt!