Ich sitze wie auf Kohlen seit ich aus dem Seminar zurück bin. Meine Eltern sind gerade dabei ihre restlichen Sachen zusammenzupacken bevor sie in den Urlaub fahren. Ich möchte unbedingt den Briefumschlag öffnen, den mir die Seminarleiterin auf der Heimreise gegeben hat. Ich habe aber Angst, dass ich mich nicht beherrschen kann, wenn ich ihn öffne und ich wieder in Tränen ausbrechen werde, so wie etwa alle zwei Stunden in der vergangenen Woche. Nur hier zu Hause muss ich mich zusammenreißen solange meine Eltern da sind. Im Seminar war es völlig egal. Die Stumme, die die ganze Zeit nur auf den Boden starrt, war ich sowieso schon und spätestens seitdem ich am Dienstagnachmittag tränenüberströmt ankam und den restlichen Tag heulend im Bett verbracht habe, wusste jeder, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie haben mir einen Brief geschrieben und gefragt, ob sie mir irgendwie helfen können und ich habe geantwortet, dass ich gerade ziemlich überfordert bin. Und ab dem Moment war es völlig in Ordnung, dass ich einfach nur dabei saß oder auf meinem Zimmer war oder draußen saß. Und es war auch in Ordnung wenn ich geweint habe und es alle sehen konnten. Es war für mich in Ordnung und es war für sie in Ordnung. Und ich habe das sehr genossen, dass ich mich nicht die ganze Zeit beherrschen musste. Und ich bin froh, wenn meine Eltern weg sind, dann muss ich auch hier keinem mehr etwas vorspielen.
Wenig später öffne ich den Briefumschlag und es fallen mehrere kleine Zettelchen heraus, auf die etwas geschrieben steht:
„aH Hallo Jonna, auch wenn wir nicht viel mit dir zu tun hatten, fanden wir es trotzdem immer schön, dass du dabei warst! Bist echt ne süße Maus J Machs gut und alles Gute für die Zukunft. Liebe Grüße N., F. und H.“
„Liebe Jonna, ich fand es unglaublich schön, dich näher kennengelernt zu haben und wünsche dir viel Spaß und Glück bei was auch immer du dir für die Zukunft vornimmst. Deine P.“
„Liebe Jonna, ich finde es sehr mutig und bewundernswert, dass du dich noch auf dieses Seminar eingelassen hast. Auch wenn der Start hier schwer war, finde ich du bist diese Woche viel mehr in der Gruppe gewesen, wahrgenommen und auch integriert worden. Das finde ich sehr schön! Ich hoffe du kannst an viele positive Erfahrungen aus deinem FSJ zurückdenken. Ich wünsche dir auf deinem weiteren Weg von Herzen alles Gute! Falls du noch irgendetwas brauchst, darfst du dich gerne jederzeit melden. Viele Grüße A.“
„Liebe Jonna, ich finde es schön, dass du hier dabei warst obwohl es nicht einfach für dich war. Glaube bitte weiterhin an dich, du bist supersympathisch.“ (ich weiß ohne Namen, dass der Zettel von H. kommt <3)
„Liebe Jonna, ich finde es toll, dass du an den Seminaren dabei warst und immer total interessiert warst. Ich glaube eine große Stärke von dir ist es, Dinge zu sehen und vor allem wahrzunehmen und dabei zu reflektieren. Vielen fällt das schwer, aber dafür leichter zu reden oder vor einer Menge zu stehen. Doch was bringt es ihnen, wenn sie das Wesentliche nicht sehen oder verstehen? Ich wünsche dir für deine Zukunft alles alles Liebe und Gute. Viel Kraft und Vertrauen in dich selbst. Ich glaube fest daran, dass du deinen Weg gehen wirst, auch wenn du jetzt den Blick in die Zukunft noch nicht so klar vor Augen hast. Alles Gute und liebe Grüße D.“
Ich lasse den letzten Zettel sinken und das alles auf mich wirken. Schon seit den ersten Worten sitze ich tränenüberströmt in meinem Bett und bin berührt von den ganzen lieben Worten, die sie mir mit auf den Weg gegeben haben. Gleichzeitig macht sich die riesengroße Verzweiflung in mir breit, die mich schon seit Dienstag immer wieder heimsucht. Ich habe jegliche Perspektive verloren. Ich habe einfach keine Ahnung mehr wie es weitergehen soll. Und ich habe Panik. So sitze ich noch zwei Stunden später, mal mit einem Kissen gegen mich gedrückt, mal liege ich im Bad auf dem Boden oder sitze neben der Toilette, weil ich das Gefühl habe mich vor lauter Heulen gleich übergeben zu müssen. Und ich bekomme immer mehr Panik. Mir wird bewusst, dass ich die Kontrolle über das alles hier schon längst verloren habe. Dass ich ganz alleine bin und das die ganze nächste Woche. Ich bin kurz davor meiner Tante zu schreiben, weil sie die Einzige ist, der ich es zumuten würde, mich so zu sehen. Auch wenn sie von dem ganzen hier nichts weiß.
Aber dann ist es plötzlich vorbei und alles normalisiert sich ein bisschen…